Bemerkenswert Nachdenkliches

Erfurt II

Eine andersartige, nicht unbedingt genussvolle Seite der Landeshauptstadt soll aufgeschlagen werden. Es werden nicht die großen, ins Auge stechenden Sehenswürdigkeiten sein.  Doch um sie einfach zu übersehen und zu übergehen, dazu prägen sie das innere und äußere Stadtbild doch zu prägnant.

Wir beginnen unseren erneuten kleinen Stadtspaziergang wiederum am Anger mit seiner Kaufmannskirche. Ihr eigentlicher Ursprung ist nicht eindeutig belegbar. Waren es friesische Händler, die bereits im 8. Jahrhundert AD den Grundstein legten, oder soll man eher von ihrer Erbauung im Hochmittelalter (11. bis 13. Jahrhundert) ausgehen? Die Wissenschaft rätselt noch. Belegt ist demgegenüber, dass die Eltern von Johann Sebastian Bach im Jahre 1668 in ihr getraut wurden. Belegt ist gleichfalls, dass Martin Luther am 22. Oktober 1522 in dieser Kirche predigte (vgl. Gedenktafel an der Kirchenwand) und dadurch einen Konfessionsstreit schlichtete.

Die Lutherstatue vor der Kirche erinnert auch optisch an die zehn ununterbrochenen Jahre Luthers in Erfurt.  Als Student immatrikulierte er sich für das Sommersemester 1501 an der Erfurter Universität (eine der ältesten Universitäten Deutschlands), blieb dort als Student der Artistenfakultät der „sieben freien Künste“ bis 1505 mit dem Abschluss eines „Magister Artium“. Erst danach wandte er sich dem Theologiestudium zu, und zwar mit seinem Eintritt in das Erfurter Augustinereremitenkloster. Ausschlaggebend für die Errichtung eines Denkmals waren in erster Linie nicht diese beiden Lebensstationen, denn zu jener Zeit kannte die religiöse Welt ihn noch nicht. Sondern sein späteres reformatorisches Handeln ließ ihn den Ruf gewinnen, der ihn auch heute noch trägt. „Seine dargestellte aufrechte Körperhaltung, eine geöffnete Bibel auf der linken Hand, die rechte quasi auf den Text zeigend, mit nachdenklichem Blick in die Weite (Zukunft?) schauend, sollen Luthers Bekennermut, seine Standhaftigkeit im Glauben und seine Entschlossenheit zu reformatorischem Wirken widerspiegeln“. So lautet zumindest die Erklärung des Bildhauers der Lutherstatue, Prof. Fritz Schaper.

Bemerkenswert nachdenklich kann auch ein weiteres Denkmal wirken, welches wir auf dem Fischmarkt einige Straße weiter Richtung Domplatz finden. Handelt es sich dabei um einen „Roland“ oder einen „Römer“? Figur, Ausstattung, Bewaffnung weisen eindeutig auf einen „Römer“ hin.

Jedoch prangt auf seinem Schild und seiner Fahne das Wappen Erfurts. Also doch „Roland“ als Symbol der (Reichs-) Freiheit? Ohne dass wir uns zu tief in der Stadtgeschichte verlieren, vielleicht hilft bei der Entscheidung der Hinweis, dass Erfurt, überwiegend im 16. Jahrhundert, Teil der Stadt Mainz und des Mainzer Bistums war, dass hier früher (bereits ab 1448) die Statue des „Heiligen Martin“, also des Schutzpatrons von Mainz stand, diese 1525 während einer Revolte gegen Mainz eingerissen wurde und erst 1591 in der heutigen, restaurierten Form als „Römer“ wieder aufgestellt wurde. Er muss ein mutiges Schlitzohr gewesen sein, der Künstler dieser Statue, der niederländische Bildhauer Israel von Milla, nämlich die Schutzpatron- und Herrschaftssymbolik „Heiliger Martin“ als für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfenden römischen Soldaten zu erschaffen. „Honte y soit qui mal y pense“ (Schande über den, der Schlechtes dabei denkt): Könnte der „Römer-Roland“ nicht auch als Aufruf zur Befreiung von der Mainzer Herrschaft verstanden worden ein? Vielleicht nicht nur bemerkens- sondern auch nachdenkenswert.

Kein Denkmal doch unvergessen: Willy Brandts Reise nach Erfurt am 19. März 1970. Das erste bemerkenswerte Gipfeltreffen zweier deutscher Regierungschefs stellte quasi den Auftakt einer deutsch-deutschen Annäherung dar. Wir erinnern uns an die Jubelstürme der Erfurter Bevölkerung, als sich Willy Brandt von seinem Hotel „Erfurter Hof“ aus der Öffentlichkeit zuwinkte, Politik vom Hotelfenster herab. Wer diese nachdenkenswerte Begegnung nachempfinden möchte, begebe sich zum Hauptbahnhof. Der aufs Hoteldach (heute Sparkasse) montierte Aufruf „Willy Brandt ans Fenster“ ist nicht zu übersehen.

Gleich an mehreren Orten in ERFURT stoßen wir auf Stätten, die uns nachdenklich stimmen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie allesamt „Jüdisches Leben in ERFURT“ beinhalten, vergangenes wie heutiges. Wer noch einmal am Anger starten möchte, findet hier bedrückende Spuren vergangenen jüdischen Lebens. Weithin bekannt sind sogenannte „Stolpersteine“ als Erinnerung an NS-Opfer. Kleine Messingtafeln mit Namen vor den jeweiligen letzten Wohnsitzen der Opfer sind in Bürgersteige eingelassen als Erinnerung. In ERFURT heißen diese Mahnmale „DenkNadeln“. Dezentral, über die ganze Stadt verteilt, bleiben so die Erfurter Opfer der Shoa (=nationalsozialistischer Völkermord an den Juden Europas) in unser aller Bewusstsein lebendig. Auf eine Frau Dr. Spier (ermordet 1942 in Ausschwitz) und ihren Ehemann Carl Ludwig (umgekommen auf dem Todesmarsch 1945) verweist z.B. die DenkNadel mit Biogramm am Anger Nr. 46. Eine weitere mit Inschrift „Günther Beer (Ghetto Belzyce) wurde am Domplatz 23 aufgestellt. Acht solcher GedenkNadeln können erwandert werden. Mit dem ausgezeichneten Straßenbahnnetz kann man zumindest weitere Entfernungen überbrücken.

Einerseits Touristenmagnet, andererseits historischer Erinnerungsort ist die Krämerbrücke. Nicht auf der Brücke selbst sondern etwas abseits von ihr, dort wo die Krämerbrücke die Gera überspannt, steht der Gedenkstein für eine MIKWE. Erst 2007 wurde dieses jüdische Ritualbad wiederentdeckt. Außer Synagoge und Friedhof gehört solch ein rituelles Tauchbad zu den wichtigsten Einrichtungen einer jüdischen Gemeinde. Einen Spaziergang mit Fotostopp ist diese kleine Sehenswürdigkeit allemal wert, auch um sich an den bunten Häuserhinterfronten der Krämerbrücke erfreuen zu können.

Versteckt im Gassengewirr der Erfurter Altstadt (Waagegasse 8) betreten wir die „Alte Synagoge“. Ihre ältesten Bauteile stammen bereits aus dem 11. Jahrhundert. Im Inneren veranschaulichen die musealen Ausstellungsstücke insbesondere Lebenweisen der ersten jüdischen Gemeinde in ERFURT. Neben der eigentlichen Baugeschichte beherbergt das Museum einen Synagogenschatz, der anlässlich eines Pogroms von 1349 vergraben worden sein soll. Hebräische Handschriften ergänzen die Präsentationen.

Beschließen wir dieses Kapitel mit einer weiteren bemerkenswerten Gedenkstätte. Offiziell nennt sie sich „Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße“. Dahinter verbirgt sich das ehemalige MfS- Untersuchungsgefängnis ERFURT. Gewidmet ist dieses Museum einerseits den ehemaligen politischen Häftlingen der vergangenen DDR. Eine Plakette an einer der Gefängnismauern weist hin auf Gründe ihrer Inhaftierung „Sie wollten Freiheit und Menschenwürde“. Beim Rundgang durch das ehemalige Gefängnisgebäude auf der sogenannten Haftetage tauchen wir ein in die Wohn- und Lebensbedingungen der Häftlinge. Ausgewählte Beispiele verdeutlichen des Weiteren das Überwachungssystem der ehemaligen DDR. Nicht fehlen darf unbeugsames und oppositionelles Verhalten. Kurz: Diese mehr als nachdenklich stimmende Geschichte vom „DDR-Rechtssystem“ wird optisch und mental gut nachvollziehbar aufgeblättert.

Text:    Wolf Leichsenring

Fotos: Heike Lerch-Jankovicz

Lage der Sehenswürdigkeiten:

Kaufmannskirche mit Luther-Denkmal – Anger 80

Roland-Römer-Statue – Fischmarkt

Wolf Leichsenring – Travel Journalist